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Erfahrungsbericht Volontär in der Schule Nuevo Conocer, Cochabamba, September 2019 - Januar 2020

von Burkhard Becker

Kann sich jemand vorstellen, wie ein Kind oder ein Jugendlicher/eine Jugendliche leidet, wenn eine berufliche Entwicklung verbaut ist? Verbaut ist, weil eine bestimmte schulische Hürde nicht genommen werden kann? Das gibt es in jedem Land. Aber meiner Meinung nach ist die Situation in Bolivien noch um einiges schlimmer, allein aufgrund der wirtschaftlichen Not. „Verschwende nie etwas. Egal was es ist. Essen, Kleidung, ... . Es gibt immer einen, der es brauchen kann.“, sagte man mir im interkulturellen Training.
Irgendwie bin ich dann über WorldUnite und eine Hausaufgaben-Betreuung in der Secundaria durch die Vermittlung von Rainer in der Privat-Schule Nuevo Conocer gelandet und darf da ehrenamtlich Nachhilfe-Unterricht geben und auch zur Unterstützung der Lehrer Mathematik-Unterricht erteilen. Es sind da Klassen von 1 – 6 (Primaria) vertreten.
Stellt mich bloß nicht am Anfang vor die ganze Klasse, ist eine insgeheime aber stille Bitte. Und es ist auch nicht so. Ich bin vormittags da, wenn Schule ist. Ich bin nachmittags da, wenn wir Nachhilfe-Unterricht anbieten. Wir, das ist ein ehemaliger Realschuldirektor Rainer und ich. Ist eine gute Mischung: ein Lehrer mit 40 – 50 Jahren Lehrerfahrung und ein Ingenieur nicht ganz so erfahren, aber mit Sinn fürs Praktische.
Morgens bekomme ich Schüler, die irgendwie nicht in den normalen Unterricht hineinpassen, die nicht mitmachen, die stören oder einfach Kinder mit enormen auch sozialen Schwierigkeiten. Die darf ich dann im Einzelunterricht oder mit wenigen anderen Schülern betreuen. Aber das wollte ich ja machen, gute Schüler helfen sich selbst. Die Schwachen muss man unterstützen. Das klappt hervorragend. So langsam tauen sie auf und erzählen Dir was und freuen sich, wenn sie eine Aufgabe fertig bringen. Man darf sie nicht überfordern. Zwanzig Minuten können sie sich konzentrieren. Dann lass ihnen ein paar Minuten Pause. Ein kleiner Junge der 2.Klasse kommt morgens in die Schule, packt seinen Schulranzen nicht aus und versteckt sich gleich unterm Tisch. Okay, ab zum Einzel-Unterricht.
Mathematik in Bolivien ist sehr anspruchsvoll „Die Ansprüche sind hoch, aber nur wenige schaffen es“, sagt mir die Leitung einer anderen Einrichtung.
In der 2. Klasse werden schon Einheiten besprochen. Also zeichne ich einen Meter an die Tafel, unterteile ihn in Dezimeter, Zentimeter, Millimeter. Luan findet das toll und malt und malt. Am anderen Morgen frag ich ihn, was wir denn machen wollen heute: Ein-Mal-Eins oder Addieren oder Längeneinheiten? Natürlich Längeneinheiten. Irgendwann in der Frühstückspause bekomme ich mit, wie Luan den Rest eines Muffins mit einem anderen Jungen, der gerade in den Raum gekommen ist, teilt. Klar, der andere hat auch Hunger. Bolivianer wissen das und helfen.
Es gibt so viele andere Beispiele: Von zwei Totalverweigerern. Der eine meint, er braucht keine Mathematik oder Englisch. Er will Bauer werden. Wir machen ja keine hochtrabende Mathematik, aber jeder sollte ohne Taschenrechner rechnen können, wissen was Prozent ist, den Dreisatz kennen und in der Klasse 5 und 6 wissen, wie man einen Raum ausmisst und die richtige Anzahl von Fliesen bestellt. Das ist doch Wissen, was jeder tagtäglich braucht. Nach ein paar Mal Einzelunterricht ohne Druck klappt es auch beim Hobby-Bauern.
Ein Erfolgserlebnis gibt es, als Mädchen der 5. Klasse in meiner Aktentasche stöbern, um die Freitags-Tests herauszufinden. „Wir wollen sie kopieren.“ Ich sage „Nein, das geht nicht. Aber ihr könnt sie üben. Jetzt.“ Und im Nu stehen 3 Kinder parallel an der Tafel und rechnen die Aufgaben. Die 2. Reihe wartet schon. Ab da wird es immer besser. Jetzt kommen sie schon zu mir und fragen: “Profe(sor) Burkhard, frag mal das Ein-Mal-Eins ab.“ naja: 2 * 3 und 4 * 5 aber 9 * 8 !!!! Toll, klappt auch.
Ein kleines Mädchen, Dahyani eine Überfliegerin, stelle ich einfach an die Tafel (auf einen Stuhl, sie ist noch sehr klein) und lasse sie Aufgaben rechnen, die ich ihr in Matrix-Form hingeschrieben habe. Sie ist sehr zufrieden da und sagt immer nur „El siguiente.“ Die nächste Aufgabe bitte. Und strahlt.
Mittlerweile klappt es auch mit dem „Vor die Klasse gestellt werden.“ Rainer und ich teilen uns dann eine Klasse. Einer muss dann mit seiner Mannschaft einen anderen Raum aufsuchen. Nachmittags haben wir 10 – 20 Kinder aus Klasse 2 – 6 zum Nachhilfe-Unterricht, die wir uns themenmäßig aufteilen.
Die Schule Nuevo Conocer bereitet die Kinder auf die Secundaria vor (7. bis 12. Klasse). Da wird es dann etwas heftiger. Da gibt es Algebra brutal in jeder erdenkbaren Kombination. Ich habe Bücher gesehen mit über 100 Aufgaben auf einer Seite. „Die Schüler müssen doch nicht alles durchrechnen. Sie müssen es verstehen und dann reichen 10 Aufgaben statt 100. Wir müssen uns um die Schwachen kümmern. Die anderen schaffen es selbst. Die Zeit, die übrig bleibt, wenn man die anderen 90 Aufgaben nicht macht, kann man besser investieren, indem man auch die Schwächsten betreut.“ war unsere Message an die Lehrerinnen von Nuevo Conocer von Rainer und mir. Das Kollegium hat uns extra einen Nachmittag eingeräumt, wo wir unser Anliegen unterbreiten können. Sie hören zu und es wird auch angenommen.
Irgendwann kommt Rainer auf die Idee, die Kinder auf einen Spielplatz einzuladen mit selbstgemachten Hamburgern und Limo. Die anderen Volontäre organisieren das alles und braten ohne Ende. Es ist natürlich super für die Kinder. Es gibt auch einen Eisverkäufer, zu dem gleich alles läuft. Bis auf ein Mädchen, das nur schaut. Es tut schon weh, wenn man sieht, dass manche wegen ihrer Armut zurückstehen müssen. In dem Beispiel hat das Mädchen natürlich auch ihr Eis bekommen.
Manchmal spielt das Schicksal einem einen Streich. Nach 4 Monaten muss ich zurück nach Deutschland. Rainer ist auch schon weg - ein Todesfall. Dann Corona, aber sollte es die Corona-Lage wieder zulassen, bin ich so bald wie möglich wieder in Bolivien.